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INTERVIEW Superintendent Michael Braun: „Gott verändert uns“

  • Kirchenkreis

Robert Stöcker und Ernst-Herbert Ullenboom, Redakteure des Gemeindebriefs "Lebenszeichen", haben den Superintendenten des Kirchenkreises An der Agger zu Veränderungsprozessen in der Kirche und der Gesellschaft befragt

Gemeindebriefredaktion "Lebenszeichen": Unsere Gesellschaft erlebt gerade eine Wendezeit. Das hat Bundeskanzler Scholz am Anfang des Ukrainekriegs noch einmal betont. Die Folgen der Coronapandemie und des Ukrainekonflikts mit allen wirtschaftlichen und seelischen Auswirkungen werden breit diskutiert. Darüber hinaus gibt es weitere Entwicklungen, die noch tiefgreifendere Veränderungen auslösen werden: Hier sind insbesondere die Themen Umwelt und die stark wachsende Alterung unserer Gesellschaft zu nennen.

Herr Braun, befindet sich auch unsere Kirche in einem Veränderungsprozess?

Michael Braun: Die evangelische Kirche wird gerne als etwas gesehen, das jahrhundertealt, immer gleich und stabil ist. Das ist eine häufige Erwartung an Kirche. Wenn man nach 20 Jahren wieder einmal in die Kirche kommt, in der man konfirmiert wurde oder geheiratet hat, soll möglichst alles gleichgeblieben sein.

Meine persönlichen Erfahrungen mit Kirche sind ganz anders. Seit ich in der Kirche arbeiten darf, und vorher in meiner Jugend, habe ich das genaue Gegenteil erlebt. Auch Kirche befindet sich wie unsere Gesellschaft in massiven Veränderungen: bei Digitalisierung, neuen Modellen für Konfirmanden und Gruppen, neuen Gottesdienstformaten.

 

Machen Ihnen diese Veränderungen Angst oder Sorge?

Manchmal ja, in schwachen Stunden, weil ich natürlich auch nicht möchte, dass sich meine Lebensumstände verschlechtern. Aber dann schaue ich auf eine zentrale Glaubenserfahrung: Leben ist immer Veränderung, bei der Gottes Zusage gilt, dass er uns im Leben und in allen Veränderungen begleitet. Gott selbst ist ewig und unwandelbar, aber Gott verändert und verwandelt uns, seine Geschöpfe, und hilft uns dabei.

Wo ich mich nicht von Gott auf meinem Lebensweg führen lasse und lieber in selbstgemachter Sicherheit stehen bleiben möchte, da spüre ich, dass das auf Dauer nicht guttut und mich von Gott trennt.

 

Wo zeichnen sich bei Kirche Veränderungen ab und welche Pläne gibt es?

Als Kirche spüren wir die zahlreichen Veränderungen unserer Zeit sehr direkt und wir versuchen, diese Veränderungen gut zu begleiten. So hat im vergangenen Jahr unser neuer Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, Dr. Thorsten Latzel, seine Überlegungen unter dem Titel „EKiR 2030“ zur Diskussion gestellt. Der Theologieausschuss unserer Landessynode hat fast gleichzeitig das Impulspapier „Lobbyistin der GOTT-Offenheit“ herausgegeben, das die zukünftige Rolle der Kirche beschreibt. (Beide Schriften gibt es auf www.ekir.de). Zentral bei beiden Schriften ist, dass Leben und Glauben sich gemeinsam verändern. Wir leben heute anders und glauben deswegen anders. Dafür wollen wir als Kirche Raum schaffen. Kirche ist Kirche ihrer Zeit und Gesellschaft.

 

Folgt die Kirche damit also dem Zeitgeist?

Das könnte so aussehen und wäre in Ordnung. Viele empfinden es aber zum Beispiel befremdlich, dass wir uns als Kirche bei Gedanken und der Sprache aus der Wirtschaft und der Organisationsentwicklung bedienen.

Für mich ist das ganz normal. Daher nochmal: Als Kirche sind wir Kirche unserer Zeit und unserer Gesellschaft. Wenn aktuell die Individualisierung noch weiter an Bedeutung zunimmt und alle sozialen Gruppen an Haftungskraft verlieren, müssen wir uns diesen Fragen stellen und gute Lösungen finden. Das geschieht im Gebet, aber auch mit dem Blick in die weite Runde.

 

Sind Corona und der Ukrainekrieg dafür Beispiele?

Auf jeden Fall. Aktuell ist die Lage in der Ukraine sehr dynamisch. Von Woche zu Woche gilt es auszuprobieren, was man tun kann.  Das geschieht durch Angebote für Flüchtlinge in den Kirchengemeinden, unsere sozialen Einrichtungen und den Tafeln vor Ort, oder durch finanzielle Hilfen für unseren polnischen Partnerkirchenkreis in Teschen, wo sehr viele Flüchtlinge zu versorgen sind. Es geschieht durch viele Gebete und Gottesdienste.

In der Corona-Zeit haben wir als Kirche aus dem Stehgreif alternative und digitale Formen entwickelt und sind jetzt dabei, wieder neue Wege aus präsentischen und digitalen Angeboten aufzubauen.

 

Ein häufig übersehenes Problem ist der steigende Altersdurchschnitt unserer Gesellschaft. Was macht das mit Kirche?

Vieles. Das Alter heute ist anders und länger. Wir unterscheiden zwischen den jungen, hochaktiven Alten und den Hochbetagten. Dies erfordert unterschiedliche Angebote. Wir bemerken dadurch andere Interessen an Glaubensfragen, aber auch den ausgeprägten Versuch, Themen wie Sterben und Ewigkeit zu verdrängen.

Außerdem wissen wir als Kirche, dass wir in den nächsten Jahren mit deutlich weniger Menschen im Arbeitsleben auskommen müssen, weil wir viel zu wenige Kinder haben und viel mehr Menschen in den Ruhestand gehen als von den Schulen in den Arbeitsmarkt nachkommen.

So können wir schon heute sagen, dass zum Beispiel die Anzahl der Pfarrerinnen und Pfarrer bis 2030 um ein Drittel sinken wird. Das wird aber alle Berufsgruppen in der ganzen Gesellschaft treffen. Wir haben schon jetzt  gemeinsam Pläne erarbeitet, wie wir uns hier miteinander aufstellen wollen. Auch das wird zu Veränderungen führen.

 

Heißt das, Kirche braucht mehr Ehrenamtliche in der Zukunft?

Kirche sucht immer engagierte Ehrenamtliche. Ehrenamtliche sind ein großer Schatz und machen viele Dinge für uns alle möglich, die es sonst nicht geben würde. Das gilt für das ganze Spektrum von sozialer Arbeit, Leitung, Gottesdienste und Kultur.  Aber mit einer alternden und schrumpfenden Gesellschaft wird sich auch das Ehrenamt verändern. Es gilt zu fragen: Wo brauchen wir es in Zukunft ganz besonders und wie schützen wir Ehrenamtliche auch vor einer Vereinnahmung über ihre Kräfte hinaus?

 

Insgesamt erzeugt dies den Eindruck, dass die Kirche mit weniger viel mehr tun möchte. Wie kann das gelingen?

Vieles wird mehr, unsere Gesellschaft differenziert sich zunehmend weiter aus. Alle scheinen immer noch mehr zu wollen und sind gleichzeitig gehetzt. Früher gab es zum Beispiel nur den einen Gemeindebrief. Heute erwarten viele dazu den kirchlichen Internetauftritt und ihre Kirche vor Ort in sozialen Medien und Chatgruppen. 

Auf der anderen Seite wird von Kirche erwartet, dass wir alles immer so weiter machen. Als ich ein junger Pfarrer war, wünschte sich mein Presbyterium, dass ich all das fortführe, was mein Vorgänger und dessen Vorgänger in 40 Jahren aufgebaut hatten und noch neue Ideen umsetze. Dafür hatte ich einen wunderbaren Vorschlag. Ich bat darum, noch zwei weitere PfarrerInnen einzustellen, was damals finanziell und heute auch personell unmöglich war und ist.

Als Kirche müssen wir lernen, auch Nein zu sagen. Dinge, die vor Jahren toll waren, aber es heute nicht mehr sind, sollten wir lernen aufzugeben. Wir sollten uns trauen, nur das zu machen, was für uns heute wichtig ist und zu uns passt.

Und wenn man etwas macht, zum Beispiel Gottesdienste oder Konfirmandenarbeit, dann sollten wir das gut und mit Leidenschaft machen. Diese Konzentration und Veränderungsbereitschaft erfordern Mut.

 

Unser neuer Präses Thorsten Latzel schreibt in seinem Papier EKIR 2030: „Structure follows strategy“,  zu Deutsch: „Die Struktur soll der Strategie folgen.“ Meinen Sie genau das?

Nicht nur als Kirche muss man wissen, wohin man will, wenn man etwas erreichen will. Deswegen gefällt mir dieses Motto. Aber ich würde es noch etwas erweitern, denn keine Strategie überlebt den Kontakt mit der Realität. Man muss sie immer wieder neu anpassen, erst recht in einer Zeit grundlegender Veränderungen. Wenn man als Kirche zum Beispiel gute und lebensnahe Gottesdienste machen möchte, dann haben wir viel Erfahrung dabei und sollten außerdem einfach fragen, wann, wie und auf welchem Wege wir Gottesdienste feiern wollen.

 

Die Evangelische Kirche im Rheinland verliert rund 30.000 Mitglieder jedes Jahr. Was machen wir falsch?

Wir verlieren nicht 30.000 Menschen jedes Jahr, sondern es sterben jedes Jahr viel mehr Menschen als geboren werden. Ohne die Zuwanderung durch die Deutschen aus Russland in den Neunzigerjahren, die Flüchtlinge aus Syrien und anderen Weltteilen und ohne Migration in Deutschland würden wir das schon längst überdeutlich bemerken. Aber es treten auch Menschen aus der Kirche aus. Das tut mir sehr leid. Ich hoffe, dass wir durch mehr Beweglichkeit, mehr Nachfragen und eine flexiblere Kirche wieder interessanter werden und neu zum Glauben einladen können. Damit stehen wir gegen den aktuellen Trend zur Individualisierung. Denn: Gelebter Glaube braucht Gemeinschaft.

Ein altes kirchliches Wort dafür ist Mission.

 

Kirche als Großorganisation gilt ähnlich wie die Parteien oder Gewerkschaften als schwerfällig und langsam. Glauben Sie, dass Kirche sich überhaupt verändern kann?

Unser Präses schreibt in seinem Papier EKIR 2030, dass wir kein Erkenntnisproblem haben, sondern ein Umsetzungsproblem. Er stellt also die gleiche Frage wie Sie. Wir wissen, dass wir uns bewegen müssen, weil sich unsere Gesellschaft bewegt. Daran möchte ich gerne mitarbeiten und andere einladen, mutig Leben und Glauben heute zu wagen. Und wenn ich dabei einmal Sorgen habe oder es mir zu langsam geht, dann haben wir doch die Gewissheit, dass nicht wir sondern Gott der Herr der Kirche ist.

 

Herr Braun,  zum Abschluss: Sie sind nun seit gut zwei Jahren Superintendent des Kirchenkreises An der Agger, zwei Jahre, die für uns alle turbulente und aufregende waren. Wie würden Sie den Kirchenkreis An der Agger und ihre Eindrücke von evangelischer Kirche im Oberbergischen mit einem Satz beschreiben?

Ich probiere es einmal mit zwei Schlagworten:

Natürlich fromm

Natürlich – weil ich in der wunderbaren Natur Oberbergs schon viele Menschen kennenlernen durfte, die ihren Glauben ganz natürlich und selbstverständlich leben. Man kann bei Ihnen spüren, wie sehr sie durch die Nähe zu Gott, in Gebeten und mit der Bibel in ihrem Leben getragen sind. Das hat nichts Aufgesetztes, sondern ist Teil eines guten Lebens.

Fromm – weil ich gerade hier und in diesen zwei Jahren erleben durfte, wie sehr gerade ein guter Glaube in schweren Zeit Halt und die Kraft gibt, nicht nur an sich, sondern auch an andere Menschen zu denken. Dafür gefällt mir dieses alte Wort „fromm“ besonders gut.

Wenn ich also mal wieder in meiner alten Heimat Ostfriesland bin und beim Tee nach dem Leben im „Süden“ gefragt werde, dann beschreibe ich unsere Kirche hier im Oberbergischen gerne als „Natürlich fromm“ und schwärme auch ein bisschen.

 

Das Gespräch führten Robert Stöcker und Ernst-Herbert Ullenboom für  die nächste Ausgabe des Gemeindebriefs„Lebenszeichen“ der Evangelischen Kirchengemeinde Wiehl.

Wir bedanken uns für die Erlaubnis, das Interview schon vorher auf der Homepage des Kirchenkreises An der Agger zu veröffentlichen. 

www.ekagger.de | jth | Fotos: Heike Wenigenrath 

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Im Gespräch bei Familie Braun im Garten: Robert Stöcker (v.li.), Ernst-Herbert Ullenboom und Superintendent Michael Braun

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